Südkurier, 11.11.2005

"Alles wie gehabt"

Ein redaktioneller Beitrag unter der Rubrik "Kurz erklärt" erweckt den Eindruck, er sei journalistisch sorgfältig recherchierter "Sachbeitrag". Und ist in Wirklichkeit so falsch, nur aus arbeitgeberverbandsfinanzierten PR- Agenturen abgeschriebener Unsinn. Aber Mainstream immerhin.

Und weil der Redakteur seine Inkompetenz so schön zur Schau stellt, passt es prima, dass er dann auf der gleichen Druckseite auch noch seine persönliche Meinung in Form eines Leitartikels verbreiten darf.

Mein Leserbrief dazu. Ich habe dem Redakteur auch ein Kündigungsschutzgesetz mitgeschickt. Vielleicht macht er sich ja doch mal sachkundig. Wurde am 16.11. abgedruckt. Es fehlten, sicher aus Platzgründen die orange markierten Teile. Leider auch die Kurve, aber hier ist sie!


Alles wie gehabt

VON ALEXANDER MICHEL

Die Union war mit dem Versprechen in den Wahlkampf gegangen, den deutschen Arbeitsmarkt weiter zu liberalisieren, um angesichts von faktisch sechs Millionen Arbeitslosen ein neues Jobwunder herbeizuführen. Davon ist nach dem derzeitigen Stand der Koalitionsverhandlungen mit der SPD so gut wie nichts geblieben. Den Sozialdemokraten ist es gelungen, den Status quo weitgehend zu zementieren.

Am deutlichsten sichtbar wird dies an dem ursprünglichen Vorhaben der Union, die Macht des Flächentarifs zu beschränken, indem neue Bündnisse für Arbeit auf Betriebsebene geschlossen werden können, ohne dass Gewerkschaften und Arbeitgeberverband dem ausdrücklich zustimmen müssen. Von diesem Instrument einer dringend benötigten Flexibilisierung des Arbeitsmarkts ist inzwischen keine Rede mehr, weil die SPD dessen Aufgabe bereits in den Sondierungsrunden zu einer Vorbedingung für eine schwarz-rote Ehe gemacht hat. Eine trotz aller schmerzhaften Kompromisse regierungswillige Unions-Chefin Angela Merkel hat es bisher nicht gewagt, über der Frage des Tarifrechts mit der SPD den Hauch eines Streits vom Zaun zu brechen.

Die Sozialdemokraten haben dieses Zeichen der Schwäche auch beim Thema Kündigungsschutz genutzt. Die Union hat sich - trotz des personellen Bebens bei der SPD - praktisch komplett über den Tisch ziehen lassen. Ursprünglich wollte sie den Schwellenwert, ab dem der Kündigungsschutz greift, glatt verdoppeln und auf 20 Beschäftigte anheben. Das hätte immerhin das Etikett "Reförmchen" verdient gehabt. Es ist nicht einmal dieses Wenige geblieben.

Stattdessen kann ein Arbeitgeber bei einer Neueinstellung die Probezeit auf zwei Jahre verlängern. Warum der Unions-Verhandler Ronald Pofalla das als "größte Reform beim Kündigungsschutz in den vergangenen Jahrzehnten" feiert, bleibt sein Geheimnis. Denn diese Regelung gibt es im Grunde längst. Schon bisher konnten Arbeitsverhältnisse ohne besondere Begründung auf zwei Jahre befristet werden. Somit bleibt beim Kündigungsschutz alles wie gehabt. Ein praktiziertes Verfahren wird nur mit einem neuen Etikett versehen, damit der Bürger glaubt, Schwarz-Rot packe die Dinge an.

Irrtum. Auch über ein zusätzliches Unions-Vorhaben hat sich Stillschweigen gebreitet. Bei Neueinstellungen sollte ein Wahlrecht zwischen Kündigungsschutz und Abfindungsregelung verhindern, dass das Arbeitsgericht das letzte Wort sprechen muss. Angesichts der wachsenden Prozessfreude hätte sich die Chance geboten, die unternehmerischen Vorbehalte gegen neue Jobs zu dämpfen. Doch das hätte einer Experimentierfreude bedurft, die der Union nach ihrem mageren Wahlergebnis abhanden gekommen ist.

Die jetzt schnell gezimmerte Scheinreform beim Kündigungsschutz könnte die Lage sogar schlimmer machen als sie schon ist. Denn ein Angestellter, der zu einer anderen Firma wechseln will, büßt künftig für zwei Jahre seine Arbeitsplatzsicherheit ein. Das macht einen Jobwechsel riskant und bedeutet letztlich weniger Mobilität auf dem Arbeitsmarkt. Die viel beschworene neue Dynamik lässt weiter auf sich warten. Jeder zweite Arbeitslose in Deutschland ist seit mehr als einem Jahr ohne Job; in Großbritannien ist es nur jeder vierte und in den USA jeder neunte. An diesem Verhältnis wird sich mit den bisher erzielten Verlegenheitslösungen kein Deut ändern.

Es droht sogar neues Ungemach. Das Antidiskriminierungs-Gesetz, das wegen EU-Fristen bald umgesetzt werden muss, wird die Unternehmer noch mehr dazu anspornen, mit dem jetzigen Personal auszukommen. Denn Firmen werden sich künftig für viele Ablehnungen von Bewerbern rechtfertigen müssen, was eine sorgfältige Dokumentation der Personalentscheidung nötig macht, will man das Risiko vermeiden, vom Richter zu Entschädigungen verpflichtet zu werden. Mit diesem schikanösen Auswuchs einer Diskriminierungs-Hysterie wird jede Beschäftigungspolitik ausgebremst - auch eine bessere als Union und SPD bisher bereit sind zu wagen.

On-line unter http://www.suedkurier.de/1785601


Im Rang einer Glaubensfrage

VON ALEXANDER MICHEL

Eines steht fest: Vom Kündigungsschutz profitieren nur die Arbeitsplatz-Besitzer Die Lockerung des gesetzlichen Kündigungsschutzes ist zwischen den Parteien seit Jahre umstritten. Für die einen ist der Schutz eine Beschäftigungsbremse, für die andern ist er die Garantie gegen rücksichtsloses Anheuern und Feuern von Beschäftigten.

1 Ist der Kündigungsschutz mit der jetzt vereinbarten Ausdehnung der Probezeit auf zwei Jahre bei Neueinstellungen "praktisch ausgehebelt", wie der DGB behauptet?
Keineswegs. Schon bisher kann jeder Arbeitgeber einen Bewerber für zwei Jahre befristet einstellen. Zudem hat sich am "Schwellenwert" - das ist die Anzahl von Beschäftigten, ab der der Kündigungsschutz greift - nichts geändert. Sie bleibt weiterhin bei zehn Beschäftigten.

2 Was hat sich beim Kündigungsschutz bisher eigentlich getan?
Im Grunde wenig. Die Politik hat sich bisher weder an die Flexibilisierung geschweige denn an die Abschaffung des Kündigungsschutzes herangewagt, sondern meist nur den Schwellenwert verändert. 1996 wurde dieser von der Kohl-Regierung von fünf auf zehn Beschäftigte angehoben. 1998 machte Rot-Grün dies rückgängig. 2004 wurde der Wert auf Drängen der Union wieder auf zehn erhöht. Nach einem Wahlsieg wollte man ihn auf 20 anheben. Die FDP wollte einen Schwellenwert von 50 Beschäftigten. Doch selbst damit wären zwar 96 Prozent aller deutschen Betriebe aber nur 42 aller Beschäftigten betroffen.

3 Hat sich die erste Erhöhung des Schwellenwerts positiv auf die Beschäftigung ausgewirkt?
Nein. Das ist ein Hauptargument der Gegner einer Flexibilisierung. Unter den Experten ist grundsätzlich umstritten, ob weniger Kündigungsschutz tatsächlich mehr Jobs schafft. Verlässliche Zahlen fehlen hier. Zudem könnte die praktische Dimension des Problems kleiner sein als von der Politik suggeriert. Laut einer Studie der DGB-eigenen Hans-Böckler-Stiftung gehen 35 Prozent aller Kündigungen vom Arbeitnehmer aus; in sechs Prozent der Fälle wird der Arbeitsvertrag einvernehmlich aufgehoben, in elf Prozent läuft eine Befristung und in vier Prozent eine Lehre aus. Nur in 28 Prozent kündigt der Arbeitgeber.

4 Wer ist der Verlierer des Kündigungsschutzes?
Grundsätzlich alle, denen diese Hürde den Einsteig in den Arbeitsmarkt erschwert. Das sind in der Regel junge Menschen nach der Ausbildung und dem Studium, aber auch ältere Personen, die einen Wiedereinstieg in den Beruf anstreben - darunter viele Frauen. So erschwert der Kündigungsschutz zwar einerseits Entlassungen, hemmt andererseits jedoch den Aufbau von Beschäftigung.

On-line unter http://www.suedkurier.de/1785589


Mein Leserbrief dazu:

Es ist gut, dass Herr Michel seinen Kommentar links oben und das Sachwissen, auf dem er beruht, unten auf der gleichen Seite präsentiert. Das Kündigungsschutzgesetz hat er wohl noch nicht gelesen. Sonst wüsste er, dass es nicht vor Kündigung schützt. Es regelt nur nach sozialen Kriterien, wer entlassen wird. Ob Entlassungen wirtschaftlich begründet werden und diese Begründung den Tatsachen entspricht, das spielt keine Rolle. Insbesondere auch nicht, wie viele Kündigungen ein Arbeitgeber vorhat. Was also soll "hemmend für Beschäftigung" sein, wenn Arbeitgeber jederzeit so viele Arbeitnehmer entlassen können, wie sie es in 'unternehmerischer Freiheit' unkontrolliert entscheiden können?

Es ist auch unter echten Experten nicht umstritten, ob Kündigungsschutz einen Einfluß auf Beschäftigung hat: es hat schlicht und ergreifend keinen. Ein simpler Blick auf den zeitlichen Verlauf von Arbeitslosigkeit und Vergleich mit den jeweils herrschenden gesetzlichen Regeln macht es klar.

Wenn überhaupt, zeigt die Kurve (Bild weggelassen, zugefügt "der Arbeitslosenquote 1980 bis 2002") eher umgekehrtes: weniger Kündigungsschutz- höhere Arbeitslosigkeit.

Und wie sollen davon Arbeitsplatzbesitzer profitieren? Die Phrasen sind von den arbeitgeberfinanzierten PR- Agenturen bekannt, aber wird Falsches durch Abschreiben den richtig? Wenn man Richtiges zum Thema Kündigungsschutz wüsste, müsste man auch keine Glaubensfrage daraus machen, wie auch bei anderen Themen des Kommentars. Aber Agenturen abzuschreiben ist wohl einfacher- zugegeben.


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Letzte Aktualisierung: 28.04.06